Die Köpfe hinter ACTA in der EU-Kommission <<fm4.orf.at/stories

9. 2. 2012 – 09:00 Uhr

Handelskommissar Karel de Gucht und Michel Barnier (Binnenmarkt) treiben das umstrittene Abkommen voran. Die für “geistiges Eigentum” zuständige Juristin der Kommission war bis 2004 Toplobbyistin der Musikindustrie.

Er sei von den Protesten gegen ACTA nicht beeindruckt, versicherte De Gucht am Mittwoch den EU-Parlamentariern. Sein Handeln erweckte allerdings einen gegenteiligen Anschein: De Gucht hatte alle Fraktionen zu dringenden Gesprächen gebeten. Nacheinander und natürlich hinter verschlossenen Türen, wie es dem Ungeist dieses Abkommens, dessen Text jahrelang strikt geheim gehalten worden war, entspricht.

Die Proteste in Polen, Tschechien, der Slowakei und neuerdings auch in Lettland hatten zu eiligen Distanzierungen der jeweiligen Regierungen geführt, was wiederum hinter den Kulissen von Brüssel einige Hektik ausgelöst hat. Ein Land könnte nämlich genügen, um das gesamte, umstrittene “Anti-Piraterie”-Abkommen zu Fall zu bringen.

ACTA und IPRED

Noch ist ACTA im EU-Parlament gar nicht richtig angekommen, schon geht es Schlag auf Schlag. Die EU-Kommission hat vor wenigen Tagen eine “Roadmap” zur Novellierung der Richtlinie zur “Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte” (IPRED) veröffentlicht. In diesem Fahrplan ist exakt jenes Kapitel enthalten, das bereits vor Längerem aus ACTA gestrichen werden musste, weil es dafür offenbar keinen Konsens gab: das Kapitel zum Internet.


Aktuell dazu:

Wie erstaunlich weit die Diskussion zu ACTA bereits in die Gesellschaft vorgedrungen ist, zeigte sich am “Safer Internet Day”, der im Nationalrat abgehalten wurde. Schülerinnen und Schüler aus ganz Österreich waren gekommen um Fragen zu stellen. Das Hauptthema war ACTA.

Ende März 2011 hatte die EU-Kommission die Ergebnisse einer öffentlichen Konsultation zur verschärften Durchsetzung des Urheberrechts im Internet begutachtet und diskutiert. Damit war man allerdings bereits im Juni 2011 weitgehend fertig, denn das nun vorgelegte, aus drei Seiten bestehende “Fahrplan”-Dokument trägt diesen Zeitstempel.

“Kooperation” als Pflicht

“Um die Wertschöpfungskette der Produktfälscher zu unterbrechen, sind geeignete rechtliche Instrumente zu entwerfen”, heißt es da auf Seite drei, “und die Kooperation zwischen Inhabern geistiger Eigentumsrechte und Übermittlern zu verstärken (zum Beispiel Internetprovider, Spediteure und Auslieferer, Zahlungsdienstleister etc.)”.

Was ist damit gemeint? Nach dem in ACTA vorgegebenen Muster werden dann irgendwelche “Komitees” bestimmen, was “legale Inhalte” sind, und die Provider werden auf Zuruf – je nach nationaler Umsetzung – abmahnen müssen, Inhalte sperren oder sonstige Sanktionen ergreifen. All das im Rahmen des Zivilrechts, und nicht etwa, weil ein strafrechtlicher Tatbestand vorliegt.

“Böser Zwilling”

Der Strafrechtszwilling dieser Richtlinie, die nun in diese Richtung “novelliert” werden soll, IPRED2, war nämlich trotz intensiven Lobbyings und flächendeckenden Desinformationskampagnen im TV nicht durchgegangen. Egal wie oft der Slogan “Raubkopierer sind Verbrecher” auch wiederholt wurde, durchsetzen ließ sich die Richtlinie im EU-Parlament damit nicht und ward in Folge auf Eis gelegt.

In Polen waren Zigtausende friedlich aber lautstark auf den Straßen, die ganze Zeit über standen die offiziellen polnischen Websites unter DDoS-Angriffen. Vereinzelt kam es zu echten Krawallen. Die Regierungen in Tschechien und der Slowakei reagierten auf die ersten Proteste ebenso verschreckt, da man das nicht erwartet hätte. Der Tenor der Demonstranten in mehreren polnischen Städten: “Wir Polen können uns noch gut daran erinnern, wie sich Zensur anfühlt.”

Diese Verpflichtung zur “Kooperation”, die in der technischen Realität bedeutet, dass Provider den Internetverkehr ihrer Kunden von vornherein überwachen müssen, ist ebenso ein Wiedergänger. Durch Festhalten an eben dieser Forderung hatten dieselben Akteure, die jetzt wieder die Fäden ziehen, die Verabschiedung des sogenannten Telekom-Pakets monatelang blockiert.

Wiederkehr und Timing

Mit diesem längst überfälligen “Servicepack” wurden 2009 insgesamt drei veraltete EU-Richtlinien und zwei Verordnungen auf den neuesten (technischen) Stand gebracht. Die “Kooperationsverpflichtung” flog hinaus. Nun kehrt sie wieder und dasselbe Spiel beginnt noch einmal von vorn.

Sieht man sich das Timing zum Fahrplan an, dann ist auch klar, warum ein halbes Jahr zugewartet wurde. Der Zeitplan für die IPRED-Novelle war nämlich auf das ACTA-Verabschiedungsszenario abgestimmt, den Auftakt zur weltweiten Aktion aber sollte die Kombination von SOPA/PIPA in den USA setzen.

Noch ein “böser Zwilling”

Das ist zwar vorerst schiefgegangen, was einen spontanen Wutausbruch Rupert Murdochs auf Twitter zur Folge hatte, nun macht man in Europa weiter, während Richtung Asien gerade der “bösen Zwilling” ACTAs in Marsch gesetzt wurde.

Der für den pazifischen Raum vorgesehene Klon des auf die EU gerichteten “Anti-Piraterie”-Abkommens TPPA sieht ein Mitspracherecht von Konzernen bei nationalen Gesetzen vor. Juristen orten einen “Krieg gegen die digitale Welt”.

Strategie und Policy

Es ist ganz klar eine weltweit bis ins kleinste Detail akkordierte Großoffensive, die darauf baut, dass an den politischen Schaltstellen die richtigen Leute sitzen, die auch wissen, wie man eine so komplexe, so viele Jurisdiktionen übergreifende Kampagne fährt.

EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier hatte mit seinem Strategiepapier diesen IPRED-Vorstoß höchstselbst eingeleitet. Das Strategiepapier liest sich, als hätte als hätte es die Іnternational Federation of Phonographic Industries (IFPI) selbst verfasst. Wie üblich werden Urheberrechtsverletzungen und Produktpiraterie in einem Atemzug genannt und nicht-gewinnorientierte Tauschbörsenbenutzer mit organisierter Kriminalität gleichgestellt.

Vor und hinter Kulissen

Handelskommissar De Gucht wiederum hatte auf die zunehmend wütende Kritik von Netzaktivisten reagiert – indem er ihnen nicht antwortete. De Gucht schrieb vielmehr an den Ausschuss für internationalen Handel des EU-Parlaments und zieh Organisationen wie La Quadrature du Net der Verbreitung von Falschinformationen.

Das Hin und Her rund um das Telekompaket dauerte gut 18 Monate(www.fuzo-archiv.at Während einige ziemlich heikle Streitpunkte zwischen Konsumenteninteressen und Telekomsektor, sowie Zuständigkeiten für Regulatoren relativ schnell beigelegt werden konnten, spießte es sich am schönen Wort “Kooperation”.

Hinter den Kulissen der Kommission, gleichwohl auf einem Spitzenposten, werkt seit Frühjahr 2011 Maria Martin-Prat. Sie arbeitet dort als oberste Juristin für “geistiges Eigentumsrecht”, hat aber mit Lobbying-Kampagnen für die Medien- und Unterhaltungsindustrie jede Menge praktische Erfahrung.

Vom IFPI in die EU-Kommission

Martin-Prat war von 1999 bis 2004 oberste Urheberrechtsjuristin der Musiklobby IFPI und als solche für “Global Policy” zuständig, also für internationale Strategie. In Martin-Prats Amtszeit fallen die ersten Hausdurchsuchungen bei Tauschbörsenbenutzern außerhalb der USA.

2003 wurde seitens des IFPI dann angekündigt, nun die Provider in die Pflicht zu nehmen, 2004 wurde die Richtlinie zum Schutz geistiger Eigentumsrechte unter heftigem Geschiebe auf den Weg gebracht.

Die gesamte Zeit als Lobbyistin der Medien-und Unterhaltungsindustrie war Maria Martin-Prat karenzierte Beamte der EU-Kommission. Aus ihrem Direktorat kommen jetzt alle internen Rechtsmeinungen zum Thema “geistiges Eigentum”, auf die sich die Kommissare berufen.

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